Sicherlich haben Sie den Begriff »Gender Diversity« schon mal gehört. Manch einer bzw. eine mag denken, dass ihm oder ihr gar nicht so klar ist, was das eigentlich genau sein soll. Diversität, also Verschiedenheit. Damit das Zusammenleben in Verschiedenheit gelingt, braucht es jede Menge Toleranz. Das bedeutet eben auch, dass eine plurale Gesellschaft ein zukunftsweisendes Konzept braucht, wie wir unsere Gesellschaft als Ganzes und die Identitäten der Einzelnen begreifen, damit diese Unterschiedlichkeit von Menschen in einer pluralen Gesellschaft nebeneinander existieren kann. »Gender Diversity« bietet so ein weltanschauliches Konzept.
Was verbirgt sich also hinter diesem Konzept? Welche Ideen befinden sich darin? Und wie war der Entwicklungsweg der zu »Gender Diversity« geführt hat?
Im letzten Artikel aus meiner kleinen Reihe zu Gender und Kommunikation möchte ich mich mit diesen Fragen auseinander setzen, um am Ende wieder beim Stein des Anstoßes anzukommen.
Entwicklungsphasen der Genderforschung
Es ist überhaupt keine Selbstverständlichkeit, dass wir im Großen und Ganzen in einer aufgeklärten und gleichberechtigten Gesellschaft leben, wobei es sicherlich für viele Personengruppen noch notwendiger Verbesserungen bedarf. Der Blick in die jüngere Vergangenheit verrät, dass es hier massive Umwälzungen gegeben hat. Einige Veränderungen lassen sich anhand des Forschungsdiskurses der Genderforschung nachvollziehen. Dort gab es jeweils vorherrschende Paradigmen und Paradigmenwechsel. Diese wollen wir uns zunächst in einer Übersicht anschauen. Es werden vier große Paradigmen in den letzten 60 bis 70 Jahren unterschieden:
bis in die 1950er Jahre: Defizithypothese
1960er bis 1980er Jahre: Differenzhypothese
1990er Jahre: Doing Gender
ab den 2000er Jahren: Dekonstruktion von Geschlecht und Gender Diversity
Bei den Zeitangaben handelt es sich jeweils nur um ungefähre Zeiträume, da sich diese Entwicklung im Diskurs natürlich nur allmählich ergeben hat. Was haben nun also die einzelnen Paradigmen ausgesagt?
Die Defizithypothese: Männliches Verhalten ist die Norm.
bis in die 1950er Jahre
Hier werden männliche Verhaltensweisen und männliche Kommunikation als die Norm betrach-tet. Es wird zum Ideal und damit zum Erstrebenswerten erhoben. Weibliches Verhalten und weibliche Kommunikation wird auf diese Norm bezogen und damit automatisch als defizitär erachtet. Schlimmer noch: in dieser Zeit begreifen und erleben sich Frauen selbst so. Da Frau eine Frau ist, kann sie gewisse Dinge einfach nicht. Sie wird sie nie können. Und das war das Konzept, das viele Männer von Frauen hatten, und leider auch viele Frauen von sich selbst. Das männliche Ideal bleibt dem Mann aufgrund seines Geschlechts vorbehalten.
Die Differenzhypothese: Männer sind vom Mars und Frauen von der Venus.
ca. 1960er bis 1980er Jahre
In diesem Paradigma wird weibliches Verhalten und weibliche Kommunikation nicht automatisch als defizitär betrachtet, sondern als grundsätzlich verschieden von männlichen Verhaltenswei-sen. In dieser Zeit wurden ganze Listen von Unterschieden erstellt, was typisch männlich und was typisch weiblich sei. Männlichkeit und Weiblichkeit werden also als zwei vollkommen von-einander unabhängige Dimensionen gesehen. Damit wurde unterstrichen, dass Männer und Frauen aufgrund ihrer Biologie einfach unterschiedlich sind und dass sich diese Unterschied-lichkeit auch nicht überkommen lässt.
Doing Gender: Du hast kein Geschlecht. Du machst es!
1990er Jahre
Hier tritt erstmals der Begriff Gender auf. Geschlechtliches Verhalten wird also nicht nur das biologische Geschlecht, sondern vor allem auch durch sozio-kulturelle und psychische Einflüsse geformt. Dadurch werden Fragen nach Rollen und Rollenbildern, Attributionen, Darstellungen und Wirkungen hervorgerufen. Hier werden nochmals zwei Teilhypothesen unterschieden: die Registerhypothese und das sogenannte Code Switching.
Die Registerhypothese: Dir stehen unterschiedliche Verhaltensweisen zur Verfügung.
In dieser Hypothese wird ein männliches und ein weibliches Verhaltensregister unterschieden. Das sind Verhaltensweisen, die von diesem Geschlecht jeweils häufiger gezeigt werden, aber auch vom jeweils anderen Geschlecht genutzt werden können. Das ist die Vorbereitung für das Code Switching.
Das Code Switching: Du kannst den Code lernen und verändern.
Hier wird nach geschlechtsspezifischen, unveränderbaren Eigenschaften und geschlechts-typischen Eigenschaften, die jedoch modifiziert werden können, unterschieden. Je nach Situation, sozialer Erwartung und kommunikativer Kompetenz können geschlechtstypische Eigenschaften also verändert werden und man kann auch Verhaltensweisen des jeweils anderen Geschlechts an den Tag legen.
Dekonstruktion von Geschlecht und Gender Diversity: Geschlecht ist ein Faktor von vielen.
ab den 2000er Jahren
Biologisches Geschlecht und soziologisches Gender sind zwei Faktoren von vielen, die Verhalten und Kommunikation ebenfalls beeinflussen. Dazu gehören z.B. der sozioökonomische Hinter-grund, der Status, die Ethnie, das Alter, die individuelle Biografie u.v.a.m.
Es gelingt also nicht bestimmte Verhaltensmerkmale und kommunikative Merkmale an das biologische oder psychologische Geschlecht zu binden. Die Lebenswirklichkeit von Menschen ist so vielfältig, dass eine eingeengte Betrachtungsweise nicht ausreichend ist, um die Kommunikation und das Verhalten von Männern und Frauen zu erfassen und zu verstehen. Deshalb sollen vorgeschriebene und fixierte Sozialrollen aufgebrochen werden, um der einzelnen Person einen individuellen Entwicklungsweg und neue Ressourcen jenseits festgeschriebener Normenkontexte zu ermöglichen. Der Blick wird also geweitet, um Menschen in den Kontexten von Religion, Kulturkreis, Ethnie, Alter, Bildung, Biografie, Familie usw. zu betrachten und ihnen ein gleichberechtigtes Miteinander zu ermöglichen.
Der Stein des Anstoßes:
Die Zeitschrift Cosmopolitan und das Interview zum Thema BeziehungskommunikatioN
Vor einigen Wochen wurde ich von der Journalistin Ina Küper-Reinermann zum Thema Beziehungskommunikation bzw. Beziehungstaubheit für die Zeitschrift Cosmopolitan interviewt. Der Artikel ist den der Ausgabe (10/2017) erschienen. Die Ausgangsfrage war: »Warum hört mir mein Mann nicht zu?«
Nach meiner kleinen Artikelreihe zum Thema Gender und Kommunikation können Sie zumindest antworten, dass es jedenfalls nicht ursächlich daran liegt, dass er ein Mann ist. Sollten Sie in einer schwierigen Situation so richtig genervt oder wütend sein, können Sie sich mit einem kleinen Schmunzeln denken, dass es nicht daran liegt, dass er EIN Mann ist, sondern dass er »M«EIN Mann ist. (*) Und dieses kleine »M« am Anfang fühlt sich gut an.
Mein persönlicher Wunsch ist es nämlich, dass Männer und Frauen stark und offen in ihrer Kommunikation sind. Stark und offen, damit sich ein Paar das Gute, Sichere und Verlässliche in einer Beziehung bewahrt und das Spannende, Unerwartete und Frische immer wieder durch Kommunikation neu entdeckt.
(*) Umgekehrt können sich das auch Männer über ihre Frauen, Männer über ihre Männer oder Frauen über ihre Frauen denken.
Zusammenfassung: Mit dem Thema »Geschlecht und Kommunikation« sind weltanschauliche Ideen verbunden. Das Konzept »Gender Diversity« bietet einen solchen Ansatz, in dem Personen fern von vorgeschriebenen und fixierten Sozialrollen und Attributionen einen eigenen Lebensentwurf, die eigene Identität und Kommunikation entwickeln können. Im Verständnis von »Gender Diversity« ist dies von vielen unterschiedlichen Faktoren beeinflusst. Der diskursive Entwicklungsweg dorthin hat verschiedene Zwischenstufen über die Defizithypothese, die Differenzhypothese und das »Doing Gender« genommen. »Gender Diversity« kann wahrscheinlich bis heute nicht als gesellschaftlicher Konsens gesehen werden.
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